Falsche Hoffnung
In den Jahren 1943-1944 förderte Lagerkommandant Gemmeker alle Arten von Freizeitaktivitäten, um das Leben im Lager Westerbork so normal wie möglich zu gestalten. Dies diente auch seiner eigenen Unterhaltung. Das Lager Westerbork hatte das beste Kabarett der Niederlande. Sowohl in Bezug auf die Ausstattung und Qualität der Programme als auch auf das Niveau der Künstler*innen. Die Bühne-Gruppe erhielt die Möglichkeit, bunte Abende mit Kabarett, Chor, Orchester und Ballett zu veranstalten. Außerdem fanden Theater- und Musikaufführungen statt. Auch sportliche Wettkämpfe wurden ausgetragen: Fußball, Leichtathletik und Boxen. Die Teilnahme an solchen Aktivitäten, brachte jedoch keine Privilegien mit sich. Das Wichtigste war, dass die Menschen vorübergehend von Deportation freigestellt wurden.
Der harte „Osten“
Im Lager Westerbork wurde alles getan, den Häftlingen den Eindruck zu geben, sie würden in Arbeitslager in Osteuropa geschickt. Das Leben dort wäre hart, mühsam und eintönig, aber es wäre möglich dort zu Leben. Auf jeden Fall würden die Familien zusammenbleiben. Das war die Informationen die man damals bekam. Aus Lagern wie Auschwitz kamen manchmal Briefe, in denen stand, sie mussten hart arbeiten, aber es gehe ihnen gut. Zweifel und Misstrauen würden aufkommen, wenn Züge mit nur Alten, Kranken oder Kindern fahren würden. Es gab auch Gerüchte im Lager, die Nazis hätten keine guten Absichten. Vor allem die geflohenen deutschen und österreichischen Juden wussten oft aus eigener Erfahrung, in welche Richtung es gehen könnte. Doch nur wenige glaubten am Anfang, dass ihnen dort das Schlimmste bevorstand. Vor allem, weil sie nichts Konkretes über „den Osten“ wussten.
Dennoch gab es eine ständige Angst, deportiert zu werden. Es herrschte sicherlich ein Gefühl des drohenden Untergangs. Diese Angst vor einer unheilvollen Zukunft erklärt die verzweifelten Versuche, den Deportation zu entkommen. Durch das Festhalten an der Arbeit im und um das Lager hofften sie, unentbehrlich zu sein. Bestimmte Arbeitsplätze waren immers vom Transport befreit.
Bis auf Weiteres gesperrt
Aber es gab auch andere Möglichkeiten, eine Freistellung zu erhalten. Im Laufe des Jahres 1942 führten die Nazis ein Ausnahmesystem ein, indem sie Juden Stempel auf ihren Personalausweisen gaben. Diese Stempel gewährten „bis auf Weiteres" einen Deportationsaufschub. Auch einige Listen schienen Perspektiven zu bieten. Alle möglichen Behörden - deutsche und niederländische - und Privatpersonen, die einen Ausweg wussten, wurden angesprochen. In einige Listen konnte man sich nach hoher Zahlung eintragen; auf der „Stammliste" standen die Namen derjenigen (und oft auch deren Verwandten), die wichtigen Funktionen im Lager hatten, etwa in der Organisation, im Krankenhaus oder im Kabarett. Besonders an den Tagen vor dem Transport gab es viele verzweifelte Versuche, auf die eine oder andere Weise „ausgesperrt" zu werden.
System der falschen Hoffnung
Die geringe Anzahl von Menschen, die aus dem Lager Westerbork entkamen (etwa 300) ist auf das von den Nazis sorgfältig gepflegte System zurückzuführen. Denn es gab durchaus Fluchtmöglichkeiten. Viele arbeiteten für Bauern in der Gegend, wo es kaum Überwachung gab. Aber die Häftlinge könnten auch für alle möglichen Aufgaben an verschiedenen Orte außerhalb des Lagers geschickt werden. Dann blieb immer eine Reihe von Verwandten im Lager zurück. Im Falle einer Flucht wurden sie oder Häftlinge aus der Baracke der Flüchtling als Strafmaßnahme auf Transporte gesetzt. Das hielt die meisten von der Flucht ab, ebenso wie der Gedanke, dass sie nicht genau wussten, wohin sie gehen sollten.
Die „anständige" Behandlung durch die Nazis, das System der Ausnahmegenehmigungen, das Krankenhaus und das Kabarett hatten nur einen Zweck: Illusionen zu schaffen. Denn am Ende mussten fast alle transportiert werden. Das System gab letztlich nur falsche Hoffnung.